Besiedelungsmonitoring Seestadt Aspern II (2019)Die Seestadt Aspern, als ein über Jahrzehnte geplanter und verwirklichter Stadtteil, durchläuft seit Beginn der Besiedlung 2014/2015 einen vielschichtigen, dynamischen Entwicklungsprozess, der durch eine Gleichzeitigkeit von Bautätigkeit, Besiedelung, Nachbarschaftsbildung und Sozialraumproduktion geprägt ist und dabei zahlreiche Fragen von hoher sozialer und soziologischer Relevanz aufwirft: Inwiefern korrespondieren die im Planungsprozess entwickelten Konzepte von Wohnen, Nachbarschaft und öffentlichem Raum mit der Perspektive der zuziehenden Menschen? Wer siedelt sich, unter demographischen und ökonomischen Gesichtspunkten, überhaupt in der Seestadt an, und welche Anforderungen und Ansprüche stellen die neuen Bewohnerinnen und Bewohner an ihr neues Wohnumfeld, das Quartier? Welcher sozialen Logik und Dynamik unterliegt die Entwicklung des Stadtteils, insbesondere auch im Hinblick auf das soziale, nachbarschaftliche Gefüge? Welche sozialen und sozialräumlichen Herausforderungen ergeben sich in diesem Zusammenhang?
Inhalte und Zielsetzung Das mehrstufig angelegte „Besiedelungsmonitoring Seestadt Aspern“ ist als ein Forschungsprojekt konzipiert, das den Prozess der Stadtteilentwicklung sozialwissenschaftlich begleitet. Nach umfangreichen Erhebungen im Zusammenhang mit der Besiedlung der ersten Wohnbauten 2015 mit Beobachtungen, Stakeholder-Interviews und Befragungen der neuen Bewohner*innen und einer Kontextualisierung der Seestadt im Verhältnis zu anderen Wiener Stadterweiterungsgebieten (2017) galt es in der zweiten größeren Feldphase, die schwerpunktmäßig im Frühherbst 2019 stattfand, herauszufinden, wie sich die Situation aus der Perspektive der Menschen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten in die Seestadt gezogen sind, darstellt: Unterscheiden sich Wahrnehmung und Bewertung des Stadtteils nach dem Zeitpunkt des Zuzugs? Verändert sich die Einstellung jener, die seit der Erstbesiedlung in der Seestadt wohnen? Lassen sich verfestigte Erwartungen und Muster in den sozialen und sozialräumlichen, nachbarschaftlichen Beziehungen erkennen? Können in Hinblick auf die weitere Entwicklung des Stadtteils bedeutsame erwünschte oder unerwünschte Dynamiken identifiziert werden?
Methodische VorgehensweiseUm diese Fragen zu beantworten, wurden neben der breit organisierten, fragebogengestützten Erhebung unter Bewohner*innen der Seestadt erneut sozialräumliche Beobachtungen, vertiefende qualitative Interviews, Stakeholdergespräche und Fokusgruppendiskussionen durchgeführt. Ziel der Fragebogenerhebung ist es, Bedürfnislagen, Interessen, Wahrnehmungen und Vorstellungen der Bewohner*innen kennenzulernen, die nicht zuletzt in Bezug auf Themen wie Wohnzufriedenheit, Nachbarschaft und sozialer Zusammenhalt, öffentlicher Raum und damit in Verbindung stehende Fragen der milieubezogenen Differenzbildungen von Relevanz sind. Im Mittelpunkt der qualitativen Erhebungen stehen Fragen der Imagebildung und das Thema Stadthitze.
Ergebnisse und Schlussfolgerungen
Mit der Zeit werden die Nachbarschaftsbeziehungen stärker, aber auch differenzierterDie Ergebnisse des Besiedelungsmonitorings zeichnen ein differenziertes Bild: Erneut erweisen sich die Befragten als sehr zufrieden, wobei mit zunehmender Dauer sich die Haltung kristallisiert: Befragte, die mit der Fertigstellung der ersten Wohnbauten in der Seestadt wohnen, die sogenannten „Pionier*innen“, geben deutlich häufiger an, sehr gerne in der Seestadt zu wohnen als jene, die erst nach 2018 eingezogen sind; gleichzeitig wird die Einstellung mit der Zeit aber auch realistischer und es nimmt der Anteil der kritischen zu. Dass Pionier*innen das Wohnen in der Seestadt die Wohn- und Lebensqualität in Summe besser einstufen als neu zugezogene Bewohner*innen hat einerseits mit der Identifikation der Pionier*innen mit dem Projekt zu tun, bei dem sie von Anbeginn dabei waren und die dadurch bedingte gewachsenen Vertrautheit mit dem Quartier. Aus den qualitativen Interviews geht darüber hinaus hervor, dass sich viele bewusst für das Stadtgebiet als Wohnstandort entschieden haben, weil sie bei etwas Neuem dabei sein wollten und den Stadtteil mitgestalten möchten. Es zeigen sich insbesondere bei Fragen zu Nachbarschaftsbeziehungen und gutnachbarschaftlichem Verhalten für Angehörige der Pioniergeneration durchwegs höhere Werte. So schätzen mehr Pionier*innen den sozialen Zusammenhalt in der Seestadt als sehr gut ein, und die Daten legen nahe, dass sich die Nachbarschaftsbeziehungen mit der Zeit verfestigen: Weitaus mehr Pionier*innen geben an, sich öfter mit anderen Nachbar*innen zu gemeinsamen Aktivitäten zu treffen oder bringen sich aktiv in Nachbarschaftsinitiativen ein. Bei allen Differenzen im Vergleich der Kohorten dominiert gruppenübergreifend ein positives Bild: Eine große Mehrheit würde Freund*innen oder Bekannten die Seestadt als Wohnort empfehlen.
Interessant sind auch die nach Zuzugskontexten unterschiedlichen Motivlagen. Bildete für die Pionier*innen die Möglichkeit, in einem neuen Stadtteil zu wohnen, die schlechte Qualität der bisherigen Wohnung, Familiengründung und die bevorstehende Geburt eines Kindes wichtige Zuzugsmotive, stehen bei den später Zugezogenen Motive wie die Größe der Wohnung, vor allem aber die attraktiv bewertete Grün- bzw. Stadtrandlage mit dem See als Erholungsort im Vordergrund. Ein weiterer Unterschied liegt darin, dass ein größerer Anteil der neu zugezogenen Befragten ihren bisherigen Wohnort in ländlichen Gebieten hatte. Auch lebt ein größerer Teil der Befragten alleine oder in Partnerschaft, jedenfalls kinderlos. Unterschiedliche Muster ergeben sich auch in Bezug auf die Frage, auf welchem Weg die neue Wohnung in der Seestadt gefunden wurde. Während in der Ersterhebung der Großteil der Befragten entweder direkt über den Bauträger oder das Wohnservice in die Seestadt kamen, dominieren unter den neu Zugezogenen neben der Vermittlung über den Bauträger vor allem das private Wohnungsangebot im Internet.
Insgesamt bestätigen die Ergebnisse den Befund der ersten Erhebung, die eine Pluralität von Mittelschichtsmilieus konstatierte, sei es entlang der Achse Materialismus-Postmaterialismus, in Bezug auf die Vorstellungen von Stadt oder ungleichheitsrelevante Aspekte. Aus dem Blickwinkel der aktuellen Erhebung verschieben sich die Bruchlinien etwas. Die Daten zeigen, dass sich Lebenslagen und dementsprechend auch Einordnungen im Laufe der Zeit verschieben können: Gab bei der Ersterhebung fast die Hälfte der Befragten an, dass die Wohnung für sie primär ein Ort der Familie sei, sagen dies jetzt, vier Jahre später, bereits fast zwei Drittel. Unterschiede zeigen sich aber auch im Vergleich der jeweils neu zugezogenen Kohorten: So finden sich in beiden Kohorten der Erstzuziehenden (2015 und 2019) sowohl ordnungs- als auch autonomieorientierte Wohn- und Quartiersvorstellungen. Unter den Angehörigen der aktuellen Zuzugskohorten sind ordnungsorientierte Positionen jedoch stärker ausgeprägt, wie sich etwa in den wohnbezogenen Präferenzen manifestiert: So repräsentiert für die neu zugezogenen Seestädter*innen die Wohnung häufiger einen Ort, „wo Ordnung und Sauberkeit herrscht“. Zugleich dominieren stärker privatisierende Konzepte des Wohnens (die Wohnung als ein Ort, „den ich mir so einrichten kann, wie ich möchte“), für mehr Befragte ist die Wohnung auch ein „Ort des Arbeitens“ sowie ein Ort, „wo ich den eigenen Hobbies nachgehen kann“.
Die aktuellen Daten lassen also annehmen, dass die Milieudifferenzierung weiter zunimmt, wobei unter den neu Zugezogenen etwas höhere Anteile an ordnungsorientierten Milieus zu finden sind als unter den Pionier*innen. Dies spiegelt sich zum Teil auch in den Stadtkonzepten. Nach der aktuellen Untersuchung stehen sich positive Vorstellungen der Seestadt als urbanes Dorf und als offene und lebendige Stadt eher negativ assoziierten Bildern der geschlossenen und abgeschlossenen Stadt gegenüber. Auch wenn sich all diese Vorstellungen in der neu zugezogene Kohorte wiederfinden, so dominieren doch eher Versionen des urbanen Dorfes, die das Leben am Stadtrand manchmal aber weniger mit Freizeit- und Erholungswert verbinden als mit sozialer Abgeschlossenheit oder sogar Isolation und Einsamkeit, besonders ausgeprägt im Zusammenhang mit Singlehaushalten.
Differenzierung der sozialen MilieusErneut verweist das Monitoring auf die nicht zu vernachlässigende Bedeutung von sozialer Ungleichheit. Vorstellungen von Offenheit und Geschlossenheit korrespondieren mit der Verfügbarkeit an ökonomischem und kulturellem Kapital. Eher bildungsferne und Personen mit niedrigen Einkommen sowie Personen mit hoher Wohnkostenbelastung teilen überdurchschnittlich das Bild einer geschlossenen Stadt, das doch deutlich in Widerspruch zum Planungsleitbild der offenen, partizipativen Stadt steht. Multivariate Analysen unterstreichen den zentralen Einfluss der Wohnkosten: Deren Beurteilung ist – neben dem Empfinden der Hitzeentwicklung – die wichtigste Determinante für die Wohn- und Lebenszufriedenheit in der Seestadt. Den Analysen zufolge hat der Quadratmeterpreis signifikanten Einfluss auf die Wohnzufriedenheit sowie auf die Bewertung der Wohnkosten. Mit jedem zusätzlichen Euro pro Quadratmeter sinkt die Wahrscheinlichkeit, den Mietpreis angemessen zu finden, ebenso wie die Wahrscheinlichkeit, sehr gerne in der Seestadt zu wohnen. (Sehr) positiv bewertet werden hingegen die eigene Wohnung, das Sicherheitsgefühl, die Barrierefreiheit, der Grünraum, aber auch die Abwicklung der Baustellen sowie die Ausstattung mit Kindergärten und Schulen. Mit mehr Ambivalenz wahrgenommen werden die Distanz zum Arbeitsplatz, die Architektur der Wohnbauten und das Ansehen der Seestadt, teilweise auch die Qualität der sozialen Nachbarschaft. Bessere Einkaufsmöglichkeiten, die Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel, freie Plätze in Schulen und Kindergärten, eine größere gastronomische Auswahl, die weitere Ausgestaltung von Grünflächen (Setzen von Bäumen), aber auch neue Lösungen für (individuelle) Mobilität sind einige der zahlreichen Wünsche, die in Bezug auf die künftige Entwicklung der Seestadt artikuliert werden.
Leistbarkeit und Hitze Was das Thema Hitze betrifft, so beklagt eine Mehrheit der Befragten eine große Hitzebelastung sowohl in der Wohnung als auch im Stadtteil. Die Hitzebelastung ist weitgehend unabhängig von soziodemographischen und ökonomischen Einflüssen, variiert aber nach Baufeld und wirkt insgesamt stark negativ auf die Wohnzufriedenheit. In Bezug auf die Leistbarkeit des Wohnens sieht knapp die Hälfte der Befragten die Wohnkosten als unangemessen hoch und äußerst sich mit den Wohnkosten unzufrieden. Dies gilt vor allem für jene, deren Wohnkosten über dem Schwellenwert von 30% des Netto-Haushaltseinkommens liegt, was auf Haushalte mit niedrigen Einkommen, aber auch auf neu zugezogene Personen, die akut finanziell stark belastet sind, überdurchschnittlich zutrifft. Wie bereits in der ersten Erhebung 2015 tritt erneut eine sozioökonomische Differenzierung zutage: In der Seestadt leben nicht nur Menschen mit höherem ökonomischen und kulturellen Kapital, die sich aktiv an der Aneignung und Gestaltung der Seestadt beteiligen wollen (überproportional in den Baugruppen), sondern auch weniger wohlhabende Menschen, die sich ihre Wohnkosten oftmals nur mit Mühe leisten können. Dauert die Belastung durch Wohnkosten an, hat dies einen negativen Effekt auf die Wohnzufriedenheit, wovon wiederum die Lebenszufriedenheit beeinträchtigt wird.
Soziale TeilhabeSchließlich das Thema der sozialen Teilhabe, das sich im Spiegel der aktuellen Forschung aus zwei Gründen von spezieller Relevanz erweist:
Zum einen bestätigt sich, dass in Neubaugebieten wie der Seestadt sich Teilhabe in hohem Maße über soziale Medien und konkrete Infrastrukturen wie Gemeinschaftsgärten oder dem Raum für Nachbarschaft vermittelt. Zum anderen zeigen besonders unter den neu Zugezogenen mehr Befragte kein oder nur wenig Interesse an gemeinschaftlichen Aktivitäten und anderen Formen nachbarschaftlicher Integration. In den Fokusgruppengesprächen wird deutlich, dass sozialer Rückzug und das Bedürfnis, unter sich zu bleiben, immer wieder mit dem Gefühl einhergeht, nicht gehört zu werden. Das Informations- und Kommunikationsangebot wird von diesem Teil der Bewohner*innenschaft als unübersichtlich empfunden. Gleichzeitig existiert der Wunsch nach einem niederschwelligen Ort der Stadtgemeinschaft. Eine der Einsichten der qualitativen Erhebungen ist aber auch, dass Gemeinschaftsbildung mit Grenzziehungen (gegenüber den Nicht-Seestädter*innen, „den Jugendlichen“ oder anderen als anders wahrgenommenen Gruppen, auch im Innenverhältnis) einhergeht, wobei die Handlungslogik der verschiedenen politischen, ökonomischen, administrativen oder auch gemeinwesenorientierten Akteur*innen wesentlich zur Produktion von bestimmten (häufig idealisierten, von Marketinggedanken getragenen) Bildern beiträgt, die leicht in Widerspruch zur wahrgenommenen Realität der Bewohner*innen geraten können.
Fazit und HandlungsanregungenDie aktuelle Befragung bestätigt und differenziert viele Befunde der Ersterhebung. Sie unterstreicht die Relevanz von potentiellen Solidaritäts- wie auch Bruchlinien entlang von Lebensstilen, soziokulturellen Milieus und ungleichheitsrelevanter Faktoren. Die Ergebnisse weisen auf teils veränderte soziale Hintergründe der neu zugezogenen Kohorte sowie eine Diversifizierung der Wege in die Seestadt und eine insgesamt überraschend hohe Fluktuation der Bewohner*innen, was zugleich die Anforderungen an sozialen Zusammenhalt, soziale Teilhabe und die Themen- bzw. Problembearbeitung vor Ort erhöht. Zusätzliche Dynamik erwächst dem Stadtteil auch durch das Agieren lokaler Akteur*innen wie der Baugruppen, oder etwa von kleinen und mittleren Unternehmen, gemeinwesenorientierten Institutionen wie Stadtteilmanagement, Jugendarbeit und Gesundheitsförderung oder auch der zahlreichen Forschungsinitiativen, die in der Seestadt aktiv sind. Gerade weil die Seestadt ein hochprofessionell geplanter und vielfältig bearbeiteter Stadtteil ist, gilt es immer wieder daran zu erinnern, wie wichtig es ist, die in ihr lebenden Menschen in ihrer Heterogenität als Akteur*innen der Stadtteilproduktion auf Augenhöhe betrachten. Das Besiedlungsmonitoring trägt dazu bei, die Wahrnehmungen, Erwartungen und Anliegen der Seestädter*innen sichtbar zu machen, was nicht zuletzt im Hinblick auf den Umgang mit Heterogenität, Unübersichtlichkeit, weniger gesteuerter Aneignung, Konflikten und Aushandlungen um auch abweichende Normvorstellungen bedeutsam erscheint.
Im Spiegel der Befragungsergebnisse sind Wohnkostenbelastung und Belastungen durch Stadthitze als Handlungsfelder besonders ernst zu nehmen. Im Zusammenhang mit der Frage der Wohnkosten geht es neben den ökonomischen Folgen für einkommensschwächere Haushalte auch um den Prozess der sozialen Differenzierung, der mit jeder Etappe der Besiedelung weiter angestoßen wird. Im Zuge der Forschung drängte sich die Frage der Kommunikation und der Zugänglichkeit von Information in den Vordergrund. Je ökonomisch belasteter, umso stärker entwickeln sich auch in der Seestadt mit all seinen ausgefeilten Kommunikationsfeatures subjektive Gefühle der Benachteiligung und von Vertrauensverlust. Umso mehr wird es um Strategien des Hinausgehens, Kommunizierens und Informierens auf Augenhöhe gehen, dass Informationen über Möglichkeiten der Teilhabe überallhin streuen, sich alle mit ihren Sorgen und Bedürfnissen wahrgenommen, ernstgenommen und willkommen fühlen können.
Auch in Bezug auf die soziale Dynamik gilt, dass Quartiersentwicklung nicht vollständig steuerbar und kontrollierbar ist; die Ergebnisse des Monitorings zeigen, dass die Seestadt einer eigenen Dynamik unterliegt, die neben soziokulturellen eben auch sozioökonomische Aspekte hat, mit Grenzziehungen nach Außen und Innen in weiterer Konsequenz. Urbanität manifestiert sich in Widersprüchen und einem bestimmten Maß an Unübersichtlichkeit und Unordnung, die es zuzulassen oder sogar zu pflegen gilt. Aktuelle Spannungsfelder sind jene zwischen sozialer Kontrolle und Anonymität, die Seenutzung und die damit verbundenen Themen von Sicherheit und Sauberkeit, das widerspruchsvolle Verhältnis von Repräsentationen der Urbanität und Dörflichkeit, das Begehren nach städtischem Treiben und Anonymität und die Angst vor dem Verlust an Unübersichtlichkeit und Überschaubarkeit. Auch in dieser Hinsicht konstituiert die Seestadt, und zwar durchaus langfristig, ein Labor für soziale Innovation. In der Seestadt als einem Stadtteil im Werden wird deutlich, dass Stadt eben mehr ist als gebaute Umwelt, sondern ein soziales Gewebe, das auch raum-zeitlich formiert ist, wobei dieser Prozess mit jeder neuen Besiedelung, der im Zeitverlauf zunehmenden Fluktuation der Bewohner*innen, ihrem Kommen und Gehen und dem Auftreten neuer Bedürfnisgruppen eine unerwartete Wendung nehmen kann.
Ein Thema, das in diesem Zusammenhang in den kommenden Jahren an Bedeutung gewinnen wird, betrifft die Seestadt als lebensweltlichen Kontext heranwachsender Kinder und Jugendlicher. Damit einher geht nicht nur die Notwendigkeit, vielfältige und flexible Angebote für Jugendliche zu schaffen, die Formen der offenen Jugendarbeit einschließen; nicht weniger erforderlich ist eine offene, reflektierte und diversitätskompetente Haltung, die in der Lage ist, in den mitunter als abweichend wahrgenommenen Verhaltensweisen von Jugendlichen den eigensinnigen Kern eines Ringens um gesellschaftliche Anerkennung zu erkennen und freizulegen. Die lokale Vernetzung von offener Jugendarbeit, Sozialarbeit in der Schule, Bildungsarbeit, Stadtteilarbeit und vieler anderer Akteure ist ein wesentliches Element des Gelingens, einen Stadtteil langfristig vor sozialer Desintegration und Anomie zu bewahren.
Eine der Hauptaufgaben in naher Zukunft besteht freilich darin, Antworten auf die Hitzeentwicklung zu finden: Wie viele Neubaugebiete ist auch die Seestadt Aspern überdurchschnittlich stark den Effekten des Klimawandels exponiert. Internationale Erfahrungen zeigen, dass Maßnahmen zur Abmilderung von Wohnraum- und Stadthitze (und anderen Erscheinungen des Klimawandels) nur dann erfolgreich und nachhaltig sind, wenn sie neben technischen auch soziale und soziokulturelle Komponenten berücksichtigen. Es genügt also nicht, nur in technischer Hinsicht ausgeklügelte (und in der Folge meist kostspielige) Strategien zu entwickeln, sondern es braucht niederschwellige Lösungen, die von Bewohner*innen ausgedacht und kooperativ entwickelt wurden und oftmals weitaus effizienter und sozial verträglicher sind. Eine Herausforderung des Themas Stadthitze besteht also auch hier in der Ermöglichung einer lokalen und praxisnahen Generierung von Wissen und Problemlösung, mit anderen Worten: in der Koproduktion von Wissen.